Die Sache mit der Papiertiger-Paranoia

"Hahaha", lachte die Angst laut auf und warf mir schwungvoll das Buch zu, das sie gerade las. "Das musst du unbedingt lesen, wenn du etwas über mich und mein Wesen erfahren möchtest.",  gluckste sie und dabei ging ihr ironischer Unterton fast unter. Ich konnte das Buch gerade noch auffangen, bevor es meine Kaffeetasse vom Tisch gefegt hätte. Meine Augen streiften den Titel des Buches, das ich nun in Händen hielt. "Denken wie ein Buddha - Gelassenheit und innere Stärke durch Achtsamkeit" von dem Neuropsychologen Dr. Rick Hanson. "Wie wir unser Gehirn positiv verändern" versprach zudem eine weiße Schrift in einem roten Sticker auf dem Cover und ein Buddha, der kopfüber vom oberen Buchrand in den Titel ragte. Meine Augen rollten automatisch auch nach oben. Die Angst wusste ganz genau, dass ich solche Ratgeber nicht sonderlich mochte. "Das mit der Papiertiger-Paranoia musst du unbedingt lesen", prustete die Angst und wollte mir damit deutlich machen, von welcher Stelle des Buches sie überhaupt nichts hielt. Nach Luft japsend fügte sie hinzu: "Ich muss mal kurz ins Bad!" und verschwand.

 

"Papiertiger-Paranoia?!?", dachte ich und nippte an meinem Kaffee. Ich hatte einen miesen Tag und die Angst machte sich darüber lustig. Papiertiger-Paranoia. Ich wollte wissen, was es damit auf sich hatte und begann zu lesen...

 


Schlechtes und Negatives immer zuerst!

Wir können eigentlich nichts dafür: Unser Gehirn liegt dauernd auf der Lauer und hält Ausschau nach potentiellen Gefahren. Selbst wenn wir uns fröhlich und entspannt fühlen, sucht unser Gehirn ständig nach drohenden Gefahren, zwischenmenschlichen Problemen oder Verlusten.

 

Warum ist das so? Im Zuge der Evolution hatten Tiere, die reizbar, nervös und misstrauisch waren, größere Überlebenschancen als eher träge Artgenossen. Und auch unsere Vorfahren mussten sich vor schlechten, schmerzhaften Dingen fern halten, um nicht der Attacke eines Raubtieres oder dem Mitglied einer anderen Gruppe zum Opfer zu fallen. Zum Überlebenskampf gehörte auch, nicht zu verhungern. Über Hunderte Millionen von Jahren war es eine Frage von Leben und Tod, sich vor plötzlichen Angriffen in Acht zu nehmen, richtig auf sie zu reagieren, sich an sie zu erinnern und auf diese Weise die Aufmerksamkeit zu schulen. Wer eher träge war und sich ungeschickt und unvorsichtig verhielt, konnte seine Gene nicht weitergeben. Und seine eigenen Gene weiterzugeben, hatte damals höchste Priorität...

 

Konsequenterweise reagierte das Gehirn darauf und entwickelte eine negative Verzerrung, die bis heute geblieben ist. Nun müssen wir heute meist nicht solche Bedrohungen wie unsere Vorfahren befürchten. Dennoch macht sich diese negative Verzerrung immer noch bemerkbar. Und zwar dann, wenn wir uns in Situationen befinden, die nach heutigem Maßstab eine Bedrohung darstellen: Im Straßenverkehr, in Sitzungen im Büro, wenn wir uns mit jemandem streiten, die Nachrichten anschauen oder ein Date haben. Unser Gehirn ist stets bereit, zunächst das Negative anzunehmen, um im Zweifel unser Überleben zu sichern.

 

Das Schlechte wiegt stärker als das Gute. Läuft dann tatsächlich etwas schief, fokussiert sich das Gehirn nur noch darauf und blendet alle anderen Eindrücke aus. Vielleicht kennt ihr das: Ihr werdet von eurem Chef, eurem Partner oder Eltern für etwas gelobt, allerdings gibt es nur eine Kleinigkeit, die hätte besser sein können... Für den Rest des Tages wird euch nur noch diese Kleinigkeit beschäftigen und das gelungene Ganze tritt in den Hintergrund. 

  

Negative Signale nehmen wir schneller und leichter wahr als positive. Ein zorniges Gesicht prägt sich uns mehr ein, als ein fröhliches. Für das Gehirn ist das Glas grundsätzlich immer halb leer. 

 

Die Macht des Schmerzes

Und nicht nur, dass wir für das Negative ohnehin empfänglicher sind. Unser Gehirn ist außerdem so veranlagt, dass schmerzhafte, erschütternde Erfahrungen die angenehmen, tröstlichen Erfahrungen in den Schatten stellen.

In lang anhaltenden, engen Beziehungen bedarf es mindestens fünf positiver Interaktionen, um eine negative auszugleichen. In der buddhistischen Lehre spricht man sogar davon, dass jedes negative Erlebnis erst durch sieben positive Erlebnisse ausgeglichen werden kann. Menschen fühlen sich dann besonders wohl, wenn die positiven Momente die negativen mindestens im Verhältnis drei zu eins (besser mehr) überwiegen. Negative Momente entwerten zudem die positiven in stärkerem Maße, als die positiven die negativen veredeln können. Eine Untat beschädigt das Image einer Heldin stärker, als ein Bösewicht seinen Ruf durch eine gute Tat aufwerten könnte. Anders gesagt: Der Bösewicht kann leichter durch gute Taten sein Image verbessern, als eine Heldin ihr durch eine Untat geschädigtes Image wieder aufpolieren kann. Eigentlich ziemlich verrückt. 

 

Die meisten von uns würden mehr dafür tun, einen Verlust zu vermeiden, als einen äquivalenten Gewinn zu erzielen. So sehr fürchten wir einen möglichen Verlust. Für diesen Nachweis erhielt der Psychologe Daniel Kahnemann 2002 den Wirtschafts-Nobelpreis.

 

Die Macht der Angst

Die Macht der Angst ist für die negative Verzerrung unseres Gehirns besonders wichtig. In erster Linie ist Angst ein Schutzmechanismus, der unser Überleben sichern soll. 

 

Blicken wir nochmal auf unsere Vorfahren. Sie konnten in der Regel zwei Fehler machen: Entweder glaubten sie irrtümlich, dass ein Tiger im Busch war, oder sie glaubten irrtümlich, dass kein Tiger im Busch war. Der Preis für den ersten Irrtum war grundlose Angst, den zweiten Irrtum bezahlten sie mit dem Leben. Folglich haben wir uns so entwickelt, dass wir lieber 1000 Mal den ersten Fehler in Kauf nehmen, um nur einen einzigen Fehler der zweiten Sorte zu vermeiden. Angst an sich war und ist also eine Überlebensstrategie, solange sie nicht überhand nimmt.

 

Natürlich gibt es auch andere Menschen. Denn eine Variante des zweiten Fehlers ist übertriebener Optimismus, was Vor- und Nachteile einer bestimmten Sache angeht. Viele Lottospieler schätzen beispielsweise die Chancen eines Gewinns viel zu hoch ein. Doch in der Regel ist unser Gehirn eher pessimistisch: Es lässt uns Bedrohungen zu hoch und Chancen und Möglichkeiten zu gering einschätzen. Es sorgt auch dafür, dass wir oft unsere Fähigkeiten, Bedrohungen abzuwenden und Chancen zu nutzen, unterschätzen. Ich vermute, jedem fallen jetzt sofort Beispiele aus dem eigenen Leben ein...

 

Es gibt sogar bestimmte Regionen in unserem Gehirn, genauer gesagt in der Amygdala, die verhindern, dass wir Ängste loswerden, vor allem, wenn sie auf Kindheitserlebnisse bezogen sind. Das hat zur Folge, dass wir uns noch intensiver und fast schon zwanghaft mit Bedrohungen auseinandersetzen, die ungefährlicher und beherrschbarer sind, als wir glauben. Andererseits übersehen wir Möglichkeiten, die in Wahrheit größer sind, als wir glauben. Unser Gehirn leidet also an chronischer "Papiertiger-Paranoia". (Deshalb war die Angst vorhin so amüsiert. Sie glaubte, dass sie ihren Platz an meiner Seite sicher hatte...)

 

Diese biologische Veranlagung zur "Papiertiger-Paranoia" wird zusätzlich von verschiedenen Faktoren befeuert:

Ein Faktor ist das menschliche Naturell. Manche Menschen (wie ich) haben ein eher ängstliches und vorsichtiges Naturell, selbst wenn sie nach Außen recht "robust" wirken.

 

Die persönliche Geschichte ist ebenfalls entscheidend. Leidvolle und schmerzhafte Lebenserfahrungen, vor allem mit traumatischem Charakter, verstärken die Angst. Wer mit launischen und reizbaren Eltern aufwuchs oder in der Schule viel gehänselt wurde -  wie ich es erlebte - der wird auch später stets wachsam sein, selbst wenn er inzwischen ein Leben im Kreise freundlicher Menschen führt.

 

Und auch die gegenwärtigen Lebensumstände spielen eine Rolle. Leben wir mit jemandem zusammen, der ständig bei kleinstem Anlass aus der Haut fährt. Oder werden wir im Büro schikaniert. Machen wir uns Sorgen um einen geliebten Menschen oder stehen wir wirtschaftlich nicht so gut da. Alles Faktoren, die die Angst mächtig verstärken, uns wachsam, vorsichtig, besorgt sein lassen und im schlimmsten Fall zu massiven Angstzuständen und Panikattacken führen können. 

 

Aus eigener Erfahrung weiß ich: Je ängstlicher wir sind, desto kleiner werden unsere Träume und wir verlieren irgendwann komplett den Glauben an uns und unsere Stärken. 

 

Schauen wir uns die Biologie dahinter an:

 

Das Prinzip "Kampf" oder "Flucht"

In möglichen Gefahrensituationen interagieren in unserem Gehirn verschieden Areale, um unser Überleben zu sichern: die Amygdala, der Hyopthalamus und der Hippocampus. Sie bereiten uns auf Kampf oder Flucht vor. Eine weitere Option wäre das Erstarren in einer ausweglosen Situation.

  

Die mandelgroße Amygdala und der Hippocampus beeinflussen unsere Emotionen und Erinnerungen in vielfacher Weise. Vor allem, wenn Wut, Trauer oder Furcht im Spiel sind. Stellt euch vor, irgendjemand ist zornig auf euch - der Partner, die Chefin, ein Kollege. Dieser Zorn wird sofort von der Amygdala registriert und sie befindet, dass hier etwas nicht stimmt. Wie vor Millionen Jahren, als wir noch vor dem Tiger im Gebüsch auf der Hut sein mussten, bereitet die Amygdala eine Kampf- oder Fluchtreaktion vor, ohne zu prüfen, ob es überhaupt nötig ist. Diese gründliche Überprüfung im Gehirn löst sie zwar auch aus, aber die dauert. Und deshalb geht sie zunächst auf Nummer Sicher: Lieber ängstlich sein als gefressen werden, ist ihr Credo.

 

Die Amygdala sendet also ihre Alarmsignale an den Hypothalamus und den Hirnstamm. Der Hypothalamus fordert sofort die Stresshormone Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin an. Der Hirnstamm aktiviert seinerseits das sympathische Nervensystem.

In der Folge schlägt euer Herz schneller, der Blutdruck steigt und ihr seid hochkonzentriet - und damit bestens auf Kampf oder Flucht vorbereitet. Der Hippocampus legt gleichzeitig eine neuronale Spur dieser Erfahrung an: Was ist passiert? Wer hat was gesagt? Wie habt ihr euch gefühlt? Diese Informationen werden dem Cortex übermittelt, damit wir später aus dieser Erfahrung lernen, sie abgleichen und - falls erforderlich - bei einer Wiederholung schneller reagieren können. 

 

Der US-amerikanische Psychologe und Neurowissenschaftler Joseph Le Doux beschreibt dieses Zusammenspiel so: "Der Hippocampus ist entscheidend dafür, dass Sie ein Gesicht als das Ihrer Cousine erkennen. Es ist der Mandelkern (Amygdala), der dann hinzufügt, dass Sie sie eigentlich nicht mögen."

 

Damit aber nicht genug: Das Cortisol, welches durch den Hypothalamus auf Befehl der Amygdala angefordert wurde, ist in den Blutkreislauf eingetreten und konnte so das Gehirn erreichen, wo es widerum die Amygdala stimuliert und stärkt. Ein Teufelskreis. Nun können die Alarmglocken des Gehrins noch leichter schrillen. Sollte die Gefahr vorüber sein oder sich gar als falscher Alarm herausstellen, dauert es leider eine gewisse Zeit, bis die Stresshormone im Körper abgebaut sind (Bewegung hilft in diesem Fall!). Vermutlich kennt ihr diesen Effekt: Ihr seid knapp einem Unfall entkommen, aber die Knie zittern euch noch 20 Minuten später.

 

Und selbst wenn wir denken, dass wir doch sehr schnell eine Situation rational erfasst haben und wissen, dass uns der Zorn des Partners, der Chefin oder des Kollegens gar nicht treffen sollte, ist unser Körper längst in Alarmbereitschft. 

 

Auch hier hat Joseph Le Doux es sehr treffend formuliert: "Sobald man sich in Gefahr befindet, reagiert man schon. Die Evolution denkt für dich." Jeder Angstpatient würde darauf - zumindest teilweise - sicher gerne verzichten... 

 

Das Cortisol wirkt unterdessen auf die Zellen des Hippocampus. Sie werden durch das Cortisol zunächst überstimuliert, dann geschwächt und schließlich getötet, wodurch der Hippocampus allmählich schrumpft. Das ist ein Problem. Denn neben dem Abspeichern von Gedächtnisinhalten hilft der Hippocampus vor allem, Dinge ins rechte Licht zu rücken und kann die Amygdala beruhigen. Diese kann daraufhin dem Hypothalamus signalisieren, dass keine weiteren Stresshormone mehr benötigt werden. Stehen wir also unter dauerndem Stress und Anspannung, werden negative Ereignisse immer bedeutender, da irgendwann der verkümmerte Hippocampus die Amygdala nicht mehr beruhigen kann. Wer sich heute gestresst, angespannt, einsam oder verletzt fühlt, wird morgen dafür um so empfänglicher sein, sich gestresst, angespannt, einsam oder verletzt zu fühlen. Und wie sieht es dann erst übermorgen aus?

 

Mehr über den Ablauf der Angstreaktion findet ihr auch hier: Anatomie der Angst

 

Mehr Chancengleichheit!

Um der "Papiertiger-Paranoia" in unserem Gehirn nicht freien Lauf zu lassen ist es wichtig, für mehr Chancengleichheit zwischen Negativem und Positivem zu sorgen. Nur so kann das Positive mehr Raum erhalten. Und aufgrund der Neuroplastizität unseren Gehirns ist das glücklicherweise auch möglich. Aber wie können wir wieder mehr Gutes in uns aufnehmen und uns die schönen, entspannten Momente bewusster machen, auch wenn wir nicht alle Faktoren, die die Ängste befeuern, von heute auf morgen abstellen können?

 

Dazu eines vorweg: Niemand soll jetzt dauerpositiv durch das Leben gehen müssen. Und Sprüche wie "Denk doch mal positiv!" kann ich nicht mehr hören, so wahr sie auch sein mögen. Welcher Mensch, der unter einer Angststörungen oder Depressionen leidet, kann schon überwiegend das Positive sehen? Wäre es so, hätte er oder sie vermutlich kein Problem. Gefühle wie Ärger, Wut, Verzweiflung haben außerdem ihre Berechtigung und sollen ihren Platz nicht verlieren, auch wenn sie gesellschaftlich in schlechtem Ruf stehen. Ich bin überzeugt, dass viele psychosomatische Erkrankungen, Angststörungen oder Depressionen darauf beruhen, dass wir diese negativen Gefühle ignorieren und ihnen keinen Platz mehr einräumen. Sie dürfen einfach nicht sein. Dabei ist ein Satz wie "Das macht mich jetzt aber wütend!" - ohne, dass man gleich wild wird - in erster Linie nur eine Feststellung, die im besten Fall die Interaktion mit anderen erleichtern kann. 

 

Es gibt viele Dinge im Leben, die negative Emotionen bei uns hervorrufen - und auch hervorrufen dürfen. Sie sollen aber genau so wenig zu einem Dauerzustand werden und wir sollten uns nicht derart von ihnen bestimmen lassen, wie unser Gehirn das gerne hätte. Für Menschen, die mit Ängsten, chronischen Schmerzen oder depressiven Störungen zu kämpfen haben, ist das nicht leicht. 

 

Mir hat anfangs das Wissen um die Abläufe in unserem Gehirn bei Angst oder Stress geholfen. Dieses Wissen gab mir die Hoffnung, dass es einen Weg aus der Miesere geben kann. Im nächsten Schritt habe ich mir viele kleinere und größere Übungen angeeignet, um den Fokus weg vom Negativen und hin zum Positiven zu lenken.

 

Ich fand es anfangs sehr schwer, mich auf Schönes in meinem Leben zu konzentrieren oder es überhaupt wahrzunehmen. Wie soll das gehen, wenn das Gehirn bereits im Dauerstress oder Daueralarmmodus ist, weil man von einer Panikattacke in die nächste schleudert, die Schmerzen quälend und beängstigend sind und man sich schwach und nutzlos fühlt? Es ist ein sehr umfänglicher Prozess, der sich aus vielen Bausteinen (unter anderm einer Psychotherapie, falls erforderlich) zusammensetzt. Welche Verletzungen kann man irgendwann zumindest akzeptieren? Wie schafft man es, den Alammodus seines Gehirns herunterzufahren? Und vor allem - und das ist das Wichtigste: Was wünsche ich mir für und von meinem Leben? Was möchte ich? Es braucht Geduld und Übung.

 

Geduld ist nicht so meins - und ich lerne immer noch. Diesen Text schreiben und mein Wissen widergeben zu können, hat mich daran erinnert, dass es sich lohnt. 

 

Einige Tipps, sich auf das Gute zu konzentrieren, habe ich schon auf diesen Seiten beschrieben und ich werde noch weitere hinzufügen: Gezielte Atemübungen, Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training oder der Bodyscan, können euch zunächst helfen, wieder bewusst zu entspannen. Und wenn ihr am Ende der Übungen die Entspannung oder ein wohliges Gefühl spürt, dann konzentriert euch nur darauf. Vielleicht hat dieses Gefühl sogar eine besondere Farbe? Bleibt einen Moment dabei. Imaginationen wie der "sichere Ort" oder eine Lieblingsfarbe, die euch schützend umhüllt, können auch hilfreich sein.

 

Oder stellt euch euren Ressourcenkoffer zusammen. Was könnt ihr gut? Was tut euch gut? Probiert vielleicht Verschiedenes aus. Für mich war zum Beispiel das Malen, das Fotografieren und auch das Schreiben mit vielen positiven Momenten verbunden - und es ging nicht darum, dass ich es besonders gut konnte. Es tat mir vielmehr gut, Neues zu lernen.

 

Oder wie wäre es mit einer Massage? Tatsächlich waren Massagen für mich manchmal hilfreicher als Gesprächstherapie, weil ich Massagen genießen kann und es mir sehr leicht fiel, das angenehme Gefühl nach einer Massage, umsorgt worden zu sein, bewusst abzuspeichern. Eine Wärmflasche und meine Kuscheldecke erfüllen für mich mittlerweile fast den gleichen Zweck. Wer sich geborgen und geschützt fühlt, fährt seinen Alarmmodus herunter. Vielleicht findet ihr für euch Dinge, die euch dieses Gefühl geben können. Es muss nicht zwingend mit einem anderen Menschen zusammenhängen.

 

Das gute Gefühl nach dem Sport, einem Spaziergang in der Natur oder nach einem warmen Bad, könnt ihr verinnerlichen, indem ihr einfach eine Minute inne haltet, ruhig atmet und euch auf das positive, entspannte Gefühl konzentriert und jeden Muskel von diesem Gefühl durchströmen lasst. Der erste Schritt ist geschafft, um den Papiertiger zu bändigen.  

 

In Zeiten, in denen es mir schwer fiel, etwas Gutes in meinem Leben wahrzunehmen, habe ich zwei Tipps einer Freundin befolgt, die - so glaube ich - auch sehr bekannt sind und vielleicht dem ein oder anderen zu simpel erscheinen, aber sie verändern die Wahrnehmung:

  1. Schreibt jeden Abend vor dem Schlafen gehen drei Dinge auf, über die ihr euch an diesem Tag gefreut habt. Das kann der blaue Himmel, der Schmetterling, ein lieber Anruf, eine Nachricht, das freundliche Lächeln der Bäckereiverkäuferin oder das gut riechende Duschgel sein. Ich habe das konsequent ein Jahr gemacht, die Zettel in einem Glas gesammelt und mir am Silvesterabend alle Zettel durchgelesen. Ich war überrascht, wie sehr sich meine Wahrnehmung geändert hatte, obwohl ich es noch gar nicht so empfand. 
  2. Die Sache mit den Erbsen: Im Alltagstrubel übersehen oder vergessen wir oft auch, was uns Gutes an diesem Tag passiert ist. Dafür gibt es die folgende Übung: Packt euch morgens einige (10) Erbsen, Bohnen oder 1-Cent-Stücke in eine Hosentasche. Immer, wenn euch im Laufe des Tages etwas Schönes, Erfreuliches begegnet, holt ihr eine Erbse - oder was auch immer - aus der Hosentasche und steckt sie in die andere. Am Abend könnt ihr dann nachsehen, wie viele Ereignisse am Tage euch positiv gestimmt haben. Es mag auch mal schlechtere Tage geben, aber es gab keinen Tag, an dem ich alle Erbsen in der ursprünglichen Hosentasche behalten habe.

Für mich war es auch sehr hilfreich, das Multitasking weitgehend abzustellen. Ich bin sicher, ihr wisst, was ich meine und kennt diese Situationen, in denen man mindestens fünf Bälle versucht in der Luft zu halten... Oder jeder Weg, den ihr am Tag macht, ist bis ins letzte optimiert. Essen und nebenher E-Mails checken gehören auch dazu. Eine Tätigkeit nur für sich zu machen, ist mir anfangs unglaublich schwer gefallen.

 

Andererseits habe ich es schon als Kind geliebt, Löcher in die Luft zu starren. Und so nehme ich mir heute zwischendurch immer mal wieder ein Minute Zeit  - auch im Büro -, um nur aus dem Fenster zu schauen und an etwas Schönes zu denken. Oft sind es diese kleinen Dinge, die uns helfen können, durch anstrengende Situationen zu kommen. Natürlich heilen sie eine Angststörung nicht. Aber sie können helfen, sie abzumildern. Stück für Stück...

 

Je öfter das Gehirn aus dem Alarmmodus aussteigen darf, um so mehr Platz für Positives kann es zur Verfügung stellen. 

 

Wie lange ist es beispielsweise her, dass ihr euch nach einem Bad oder dem Duschen mit einer schönen Körperlotion bewusst eingecremt habt, ohne unter zeitlichem Druck zu stehen? Oder wann habt ihr das letzte Mal ein Stück Schokolade - eine Rosine geht auch - ganz langsam im Mund zergehen lassen? 

 

Ich kann mich noch genau erinnern, wie empört ich war, als ich anfangs diese Empfehlungen oder ähnliche Tipps bekam. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, wie das helfen sollte, schwer Panikattacken oder chronische Schmerzen zu mildern. Und mich hat auch geärgert, dass diese Empfehlungen immer sehr pauschal und absolut vermittelt wurden. Jeder Mensch, der an einer Angststörung, Depression etc. leidet hat seine eigene Krankheits- und Lebensgeschichte. Und genau so individuelle sollte auch die Therapie oder der Weg zur Gesundung gestaltet werden. Nur ihr könnt für euch feststellen, was euch hilft und gut tut. Probiert aus, seid geduldig und wertschätzend mit euch. Dann wird sich Stück für Stück mehr Gutes einstellen. 

 


 

"Und?", fragte die Angst, die inzwischen aus dem Bad zurück gekommen war und sich neben mir auf das Sofa fallen lies. "Verstehst du mich jetzt endlich?", wollte sie mit der gespielten Leidensmiene eines zutiefst unverstandenen Wesens wissen.

Sie hielt das Buch offenkundig für großen Unfug.

"Klar!", murmelte ich noch in das Buch vertieft. "Und vor allem weiß ich jetzt, wie ich dich besser in Schach halten kann!"

Es kam selten vor, dass die Angst entsetzt schwieg...

 

 

 

 

(Quelle: Denken wie ein Buddha, Rick Hanson, 2013, 1. Auflage)

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