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Die Sache mit den Schmerz-Rhythmus-Störungen

"Ha!", triumphierte die Angst. "Du leidest auch an Schmerz-Rhythmus-Störungen! Hier, lies dir mal diesen Artikel durch." Es war Samstagmorgen und ich noch nicht ganz wach. Die Angst schob mir ihr Tablet über den Frühstückstisch zu und schenkte sich Tee nach. Ein selbstgefälliges Grinsen stand in ihrem Gesicht. Sie schaute immer so aus, wenn sie davon überzeugt war, im Recht zu sein. Etwas missmutig beugte ich mich Brötchen kauend über das Tablet und begann zu lesen:

 

"Schmerz-Coaching: Schmerz-Rhythmus-Störungen..." stand da über einem Beitrag von Anne Otto bei Spiegel Online - genauer gesagt in einem "Newsletter für besseres Leben" der "Spiegel Wissen"-Redaktion.

Was genau in diesem Artikel stand, lest ihr am besten selber hier nach. Der Bericht ist so treffend und nachvollziehbar geschrieben, dass ich ihn sehr empfehlen kann. Worum geht es also?

 

Die Autorin berichtet über die Erkenntnis der psychosomatischen Medizin, dass Schmerzen durch eine erhöhte körperliche oder seelische Anspannung verstärkt oder hervorgerufen werden können. Das ist zunächst keine neue Beobachtung. Schmerzen können seelische Störungen hervorrufen und seelische Störungen ihrerseits Schmerzen. Beide Zusammenhänge beruhen auf dem Wissen, dass der Mensch biologisch darauf ausgelegt ist, in einem Rhythmus aus Anspannung und Entspannung, aus Aktivität und Ruhe zu leben. Körperlich wie geistig. Wir brauchen Aktivität und Aktion, um uns beispielsweise zu ernähren oder Gefahren abzuwehren. Aber wir brauchen auch die Entspannung. Entspannung ist eine ganz natürliche Reaktion des Körpers, damit er regeneriert, um bei Bedarf wieder aktiv werden zu können. Dieser Rhythmus mag bei jedem unterschiedlich sein. Während die einen ihre Regeneration bei leichten Aktivitäten finden, sehnen sich andere nach einer Stunde Nichtstun auf dem Sofa. Wie auch immer der Rhythmus des Einzelnen ist, wird er gestört, reagiert der Körper irgendwann missmutig. Schmerzsyndrome können ein Hinweis darauf sein. Mit Schmerzen ist hier nicht der akute Schmerz gemeint, der eine wichtige Warnfunktion übernimmt. Liegt die Hand auf der heißen Herdplatte, signalisiert uns der einsetzende Schmerz, dass wir sie besser wegziehen sollten, um schlimmere Verbrennungen zu vermeiden. Es geht um chronische Schmerzen, die ihre eigentliche Warnfunktion verloren haben und quasi ein Eigenleben führen.

 

Viel interessanter fand ich die Aussage des Artikels, dass verschiedene "Rhythmusstörungen" zu je unterschiedlichen chronischen Schmerzsyndromen passen. Als Beispiele wurden chronische Rückenschmerzen und die Migräne näher beleuchtet. Chronische Rückenschmerzen scheinen oft mit einer Art "Erstarren" einherzugehen. Die Rhythmusstörung liegt hier in einer zu hohen Anspannung der Muskulatur. Die Entspannung ist über einen gewissen Zeitraum zu kurz gekommen. Die Muskeln sind so sehr angespannt, und fest, dass der Mensch sich kaum mehr bewegen mag. Auch die Gedanken konzentrieren sich nur noch auf Sorgen oder Probleme. Der innere Blick ist eingeengt, wie durch Scheuklappen.

 

Bei der Migräne, die ohnehin ein sehr komplexes Schmerzphänomen ist, scheint der eigene Rhythmus auf eine andere Art gestört zu sein: Vor einem Migräneanfall überdreht der Körper regelrecht. Genauer ist es der Sympathikus, der aktivierende Teil des autonomen Nervensystems, der völlig frei dreht und scheinbar kein Ende kennt. Er feuert so lange, bis der Körper nicht mehr kann und es zum Migräneanfall kommt. Der Körper wird zu Ruhe gezwungen. Jeder, der mit Migräne zu tun hat weiß, dass es eine ganze Zeit braucht, bis sich der Körper wirklich beruhigt. Zunächst heißt es, die Phase mit Übelkeit, Erbrechen, wahnsinnigen Schmerzen und Überempfindlichkeit gegen Licht, Geräusche und Gerüche durchzustehen. Danach ist der Körper so ermattet, dass meist nichts mehr geht. Der Parasympathikus darf nun für die Erholung sorgen, wenn man ihn lässt und sich Ruhe gönnt. Solltet ihr mehr darüber erfahren wollen habe ich hier den Ablauf einer Angstreaktion beschrieben, der das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus erklärt.

 

Ich habe mich gefragt, ob diese Erkenntnis, dass unterschiedliche Schmerzsyndrome auf unterschiedliche Rhythmusstörungen hinweisen, wirklich relevant ist. Geht es letztlich doch in beiden Fällen darum, eine Balance zwischen Anspannung und Entspannung zu finden. Als ich mir aber klar machte, welche Rhythmusstörungen bei mir die chronische Rückenschmerzen verschlimmern oder unerträglich werden lassen oder einen Migräneanfall auslösen, fand ich doch entscheidende kleine Unterschiede in meinem Verhalten.  

Wenn der Rückenschmerz mich "erstarren" lässt...

 

Bei Menschen, die häufig unter Rückenschmerzen leiden, scheint das Verhältnis zwischen Anspannung und Entspannung so gekippt zu sein, dass Körper und Seele regelrecht "erstarren". Genau diesen Zustand kenne ich, wenn mein Rücken stärker als sonst schmerzt und mir das Leben schwer macht. Tatsächlich ist meine innere, seelische Anspannung dann derart hoch, dass auch die muskuläre Anspannung immer mehr zunimmt. Ich bekomme den Tunnelblick: Die Gedanken sind fest fixiert auf das Negative, auf die scheinbar nicht mehr zu bewältigenden Aufgaben - und auf den Schmerz. 

 

 

 

Meine ersten beiden Erschöpfungssyndrome zeigten sich genau durch eine solche Schmerzstörung: In dem einen Fall war ich fürchterlich unterfordert im Job und war noch sehr mit der Betreuung meiner erkrankten Mutter beschäftigt. Im anderen Fall war ich mit Arbeit so überlastet, dass ich im wahrsten Wortsinn völlig leer und ausgebrannt war. In beiden Fällen konnte ich mir nicht vorstellen, dass das Leben wieder besser wird. Soweit konnte ich überhaupt nicht denken. Beide Male saß ich Tage bis Wochen wie erstarrt in meinem Büro. Der Rücken schmerzte und ich hatte Angst, mich zu bewegen. Ich sprach kaum, nahm den Hörer nicht ab, wenn das Telefon klingelte und stierte auf meinen PC, ohne wahrzunehmen, welche Mails eingingen. Besonders drastisch fand ich im Nachhinein, dass ich noch nicht mal mehr getrunken habe, obwohl die Flasche Wasser nur einen Handgriff von mir entfernt stand. Sie zu nehmen und zu trinken war einfach zu anstrengend. Außerdem hätte ich dann ja auch irgendwann auf Toilette gehen müssen. Und das erschien mir damals, als müsse ich ohne Sauerstoff den Mount Everest besteigen... In beiden Fällen löste eine unvorsichtige Bewegung eine so extreme Muskelverspannung aus, dass ich einen Hexenschuss mit heftigen Schmerzen bekam. 

Heute versuche ich in Momenten hoher Anspannung, mein Verhalten und Befinden zu reflektieren und in mich hinein zu lauschen. Meist stelle ich fest, dass meine Kiefermuskeln so verkrampft sind, als wollten meine Zähne Beton zerbeissen. Dass meine Nackenmuskulatur meint, das ganze Gewicht der Schultern und Arme tragen zu müssen und dass die Muskeln rechts und links der Wirbelsäule einfach "dicht" machen. Nichts geht mehr. Und der Atem ist auch ganz flach...

 

In solchen Situationen helfen mir gezielte Entspannungs- oder Atemübungen. Ich versuche, bewusst alle Muskeln locker zu lassen. Erst im Gesicht, im Nacken, in den Schultern runter bis zum Steißbein und sogar bis zu den Füßen. Der Bodyscan und die Progressive Muskelentspannung sowie das Autogene Training haben mir geholfen, dieses Gefühl für den Körper zu entwickeln. Es braucht etwas Zeit, Geduld und Übung, aber für mich hat es sich sehr gelohnt. Ich nehme früher wahr, wenn mein Rhythmus aus dem Takt gerät und ich kann eingreifen. 

 

Manchmal reichen schon ein paar bewusste Atemzüge tief in den unteren Rücken und den Bauch, um eine beginnende starre Haltung zu lösen. 

  

Allgemein helfen mir auch kleine Veränderungen der Routinen und Pflichten, wieder mehr "Bewegung" in den Körper und die Seele zu bringen: Mal ein anderer Weg zur Arbeit, mal die morgendliche oder abendliche Routine ändern. Und neben allen Pflichten vergesst nicht die Dinge, die euch wichtig sind. Was würdet ihr gerne für Euch tun? Was könnte euch helfen?

 

Migräne - wenn sich alles aufstaut

 

 

Die Migräne ist ein sehr komplexes Schmerzphänomen. Im Gegensatz zum Erstarren beim Rückenschmerz, scheint der Köper vor einem Migräneanfall regelrecht zu überdrehen. Wer zur Migräne neigt, bei dem staut sich das innere Erregungspotential auf. Der Sympathikus, also der aktivierende Teil des autonomen Nervensystems, feuert unentwegt und immer weiter. Überdreht der Sympathikus derart, kommt es zum Migräneanfall. Jetzt geht gar nichts mehr. Der Körper wird zur Ruhe gezwungen. Der Sympathikus schaltet ab und lässt den Parasympathikus für Erholung sorgen. 

 

 

 

Auch diese Art der Rhythmusstörung kenne ich: Bei mir ist es meist eine kurze, heftige Überlastung, die vielleicht sogar noch mit einem gewissen Spaß an der Arbeit einhergeht. Nicht so zu "übersteuern", dass es schließlich zum Migräneanfall kommt, fällt mir sehr schwer. Meist erkenne ich die Situationen, die zur "Übersteuerung" führten, erst im Nachhinein: Ich habe mal wieder versucht, mindesten 20 Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten - und wehe einer tanzte auch nur einen Millimeter aus der Reihe... 

Neben meinem Pflichtgefühl, und einem viel zu hohen Anspruch an mich selber, alles möglichst gleich und perfekt zu erledigen, lasse ich mich aber auch viel zu oft dazu hinreißen, meine eigenen Grenzen zu überschreiten, wenn mir die Arbeit Spaß macht. Ich drehe dann fröhlich wie ein Hamster auf Speed meine Runden im Hamsterrad und bin erstaunt, sollte ich irgendwann total erschöpft und kurz vor einer Migräneattacke aus dem Rad fallen. Hups?!? Was jetzt? Hat doch aber Spaß gemacht... Nur, dass ich Pausen, Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr völlig vergessen habe. Wie auch? Da waren ja 20 Bälle in der Luft... Aber vielleicht hätte ich den ein oder anderen Ball - also die ein oder andere Aufgabe - auch abgeben können - beruflich wie privat. 

 Wie bei der Prävention von Rückenschmerzen hilft mir auch bei der Migräneprofilaxe eine regelmäßige Selbstbeobachtung. Ein kurzer Check zwischendurch, wie es mir geht. Noch alles okay? Oder fühle ich mich, als hätte ich 10 Tassen Kaffee getrunken? Im Gegensatz zum Erstarren beim Rückenschmerz, weil mich die Masse der Arbeit einfach lähmt, fühlt sich das Überdrehen fast noch gut an: Hey, ich bin doch aktiv! Das ist doch gut! Nur nicht für meinen Rhythmus...

 

Den eigenen Rhythmus finden - und halten

Damit es nicht zu Schmerz-Rhythmus-Störungen kommt, ist es wichtig, seinen eigenen Rhythmus zwischen Anspannung und Entspannung zu finden. Wie ist euer Rhythmus? Kennt ihr ihn? Was braucht ihr, um gut zwischen Anspannung und Entspannung pendeln zu können?

 

Bei mir hat es etwas länger gedauert, bis ich meinen Rhythmus entdeckt habe und vor allem gelernt habe, zu ihm zu stehen. Ich brauche beispielsweise regelmäßigen und ausreichenden Schlaf. Meine innere Uhr - oder mein Rhythmus - ist da sehr spießig. Wenn ich vor Mitternacht nicht schlafe und nicht 8 Stunden schlafen kann, sind die nächsten Tage gruselig. Ich bin unausgeglichen und per se schon angespannter als sonst. War meine Arbeitswoche anstrengend, ziehe ich mich am Wochenende gerne zurück. Statt Party und "Freizeitstress", genieße ich lieber die Stille und Ruhe auf dem Sofa mit einem gutem Buch oder einem Strickprojekt. Ich nutze diese Zeit, um mich wieder neu zu erden, mich zu sammeln und Erlebtes zu verarbeiten. Nur leichter Input ist an solchen Wochenenden gefragt. Keine Reizüberflutung. Andernfalls würde ich überdrehen oder erstarren.

Mir ist klar, dass das für mein Umfeld oft schwer nachzuvollziehen ist. Mein Rhythmus ist eher gemächlich und ruhig.

 

Ich brauche durchaus meine körperliche Aktivität - im richtigen Maß und vor allem ohne Druck. Dann drehe ich brav meine Runden im Park und mache mein Yoga. Da ich überwiegend eine Kopfarbeiterin bin, gleichzeitig aber auch praktisches und kreatives Potenzial in mir habe, habe ich Hobbies gefunden, die mir einen Ausgleich ermöglichen. Dazu zählen vor allem das Fotografieren, Stricken, Basteln und werkeln. Stelle ich allerdings bei diesen Hobbies und beim Sport fest, dass ich sie wie getrieben ausführe, weiß ich sofort: "Stopp! Mach mal langsam!". Die Gefahr ist groß, komplett aus dem Rhythmus zu fallen. Dann ist absolutes Faulenzen angesagt.

 

Grundsätzlich versuche ich auch meinen Arbeitsalltag so zu gestalten, dass Überlastungsspitzen seltener werden.

Ich werde sie nicht ganz vermeiden können, aber bewusster mit diesen Situationen umzugehen, hilft mir: Tag für Tag besser lernen "Nein" zu sagen, Aufgaben abzugeben, sich helfen zu lassen oder einfach die Dinge liegen zu lassen, die noch Zeit haben, haben meine Überlastungsreaktionen deutlich gemindert. Regelmäßige Pausen einzubauen und Dinge bewusster und nicht mal eben rasch nebenbei zu machen, fällt mir immer noch schwer. Aber auch das wird Schritt für Schritt besser.

 

Den eigenen Rhythmus zu finden - und zu halten -, mag vielleicht etwas dauern, aber es lohnt sich sehr. Denn wenn ich meinen Rhythmus kenne, kann ich ihn auch bei Bedarf bewusst verändern, ohne dass es gleich zu schlimmen Schmerzstörungen kommt. Wie in der Musik, kann auch der Rhythmus zwischen Anspannung und Entspannung durchaus mal gegen den Grundschlag laufen und so Akzente setzen. Allerdings habe ich gelernt, dass ich eine für mich "unrhythmische" Phase der Anspannung mit einer entsprechenden Phase der Entspannung wieder ausgleichen sollte. Das muss nicht immer am gleichen Tag sein und ich muss auch nicht nach einer anstrengenden Woche gleich eine Woche Urlaub machen, wohl aber ein entspanntes Wochenende. Das Bild des Rhythmus passt hier eigentlich sehr schön, denn Rhythmus ist das, was über ein ganzes Musikstück passiert und nicht nur über einen Takt mit seiner strengen Ordnung. 

 

War mein Körper früher sehr empfindlich, wenn er aus dem Rhythmus kam, so toleriert er mittlerweile wieder kleinere Schwankungen. Er verlässt sich darauf, dass ich diese Schwankungen auffange. Tue ich es nicht, ist seine Reaktion irgendwann sehr schmerzhaft für mich.

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