Die andere Weihnachtsgeschichte

Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich mag Weihnachten sehr! 

 

 

Damit meine ich nicht den jährlichen Konsumrausch mit übervollen Geschäften, in denen lautstark Weihnachtslieder für genervt-hektische Menschen gespielt werden. Und denen es eigentlich schon vor dem Fest der Liebe graut...

 

Ich meine tatsächlich die besinnliche Zeit am Ende des Jahres. Vier Wochen, in denen ich mir vornehme, nicht in Hektik zu geraten. Ich liebe den adventlichen Lichterglanz, kleine Rituale, Basteln und Backen. Und ich mag es, in Ruhe das Jahr Revue passieren zu lassen.

 

So es der Job zulässt, nehme ich mir gerne zwei Wochen vor Weihnachten Urlaub, um genau in dieser Zeit bewusst den Dampf aus dem Kessel zu nehmen. Ich möchte mich in dieser Zeit mehr um die Menschen und Dinge kümmern, die mir wichtig sind. Was ich auch im restlichen Jahr versuche. Aber Dankbarkeit, Achtsamkeit und Liebe gehören für mich in diese Jahreszeit. Mich selber etwas zurückzuziehen, Ruhe genießen und Kraft zu sammeln - auch das hat für mich mit Weihnachten zu tun. Nein, ich will das arme Weihnachtsfest nicht mit Erwartungen überfrachten. Es ist einfach meine Haltung. Ich versuche in dieser Zeit besonders auf die Werte zu achten, die mir ohnehin wichtig sind. 

 

  

Dieses Jahr war es anders. Im Job war seit Monaten Chaos und ich konnte erst kurz vor Weihnachten Urlaub nehmen. Meine kleinen Rituale an den Wochenenden fielen aus, weil ich mich mit meiner Migräne plagen musste. Okay, der Körper hat sich seine Ruhe, die er brauchte, auf unangenehme Art und Weise halt geholt...

 

Und dann passierte auch noch das:

„Wie war bei euch früher Weihnachten so?“ Diese einfache Frage eines Freundes vor rund zwei Woche erwischte mich prompt auf dem falschen Fuß. Mist! Da war es wieder, dieses unangenehme Gefühl, das ich mit Weihnachten verbinde. Und das klar aus meiner Kindheit und Jugend stammte. 

 

Die Romantikerin in mir glaubt fest daran, dass Weihnachten das Fest der Liebe ist! Nachhaltig! Bis heute. Doch auch eine noch so große Romantikerin kann die Fakten nicht ignorieren, egal wie sehr ich auch daran arbeite (siehe oben): Entweder sitzt man in einer verstopften Bahn in Richtung seiner Lieben oder ist daheim im Vorbereitungsmarathon. Wie gut man auch plant und die to-do-Liste sogar mehrmals kürzt, bis nur noch das wirklich Notwendige darauf steht, so muss auch dieses Notwendige irgendwann erledigt werden. Schließlich wollen die Gäste - also meist die Familie - nicht nur ein Käsebrot an Weihnachten essen. 

 

Meine romantische Seite malt sich das Weihnachtsfest in den schönsten Farben aus: Menschen, die sich mögen und achten (inklusive der Macken des jeweils anderen!), kommen zusammen. Sie lachen, reden, singen und freuen sich einfach, gemeinsam feiern zu können – trotz oder gerade wegen einiger Probleme, die das zurückliegende Jahr möglicherweise bereitet hat. Alles ist in ein wohlig warmes und weiches (nicht rosarotes!) Licht getaucht. Es riecht nach Tannenzweigen, Orangen und Gewürzen. Es schneit vielleicht sogar. Kein Geschenketerror, keine Vorbereitungshektik. Keine Dramen, wer, wann, wen und warum besucht und was es zu essen gibt (vielleicht würde es ja auch wirklich ein Käsebrot tun?). Vielleicht ein wenig sehr idealistisch von meiner Romantikerin. Aber sie glaubt fest daran, dass alle Menschen gut zueinander sein können - wenn sie nur wollen. Und dass das das wertvollste aller Geschenke sein kann. 

 

Blicke ich zurück auf meine mittlerweile 47jährige Weihnachtsexpertise muss ich allerdings feststellen, dass es oft anders war. Es gibt manchmal Fälle und gute Gründe, dass sich Menschen - also die Familie - die meiste Zeit des Jahres nicht sehen. Warum dann an Weihnachten? Und dazu noch auf engem Raum zusammengepfercht. Das Chaos und der Streit scheinen vorprogrammiert und schon bei dem Gedanken an das Weihnachtsfest entsteht üble Laune… Wochen im Voraus.

 

In meinem Fall war es so, dass die Familie überschaubar war und es den gegenseitigen Besuchsstress nicht gab. Auch bot unser Haus ausreichend Platz. Allerdings waren die beiden Menschen, die sich Weihnachten am besten nicht begegnet wären, meine Eltern. Und da sie nicht getrennt lebten, sondern mit uns Kindern in einem Haushalt, war diese Begegnung schwer zu vermeiden. Egal, wie groß das Haus auch war. Dabei machte es eigentlich keinen Unterschied, ob Weihnachten war oder nicht. Verletzende und laute Streitereien gehörten sowieso mehr als weniger zum Alltag. Dass Weihnachten war, machte es nur für mich schlimmer, da ich schon als Kind eine hoffnungslos romantische Vorstellung von der Bedeutung dieses Festes hatte. Meine Oma hatte mich wohl zu oft in die Kirche mitgenommen oder ich habe zu viele Märchen gelesen… Freude und Liebe sollten an Weihnachten doch im Mittelpunkt stehen. Und vielleicht auch ein paar Geschenke.

 

Es waren nicht alle Weihnachtsfeste, die ich mit meinen Eltern verbrachte, ein Fiasko. Aber die meisten waren es schon. Und ich weiß auch gar nicht mehr genau, in welchem Jahr Weihnachten für mich zu einer emotionalen Horrorshow wurde. Oft hatten wir Heiligabend Gäste: Freunde meiner Eltern, die Patenkinder meiner Eltern mit deren Eltern, die frisch verwitwete Nachbarin, die Freundinnen meines Bruders und meine Freunde. Unser Haus - und das war eine sehr positive Eigenschaft meiner Eltern - stand jedem offen. Es waren meistens die besten Feste, wenn irgendjemand außerhalb der Familie dabei war. Nicht, dass sich meine Eltern dann zusammengerissen hätten. Nein, es machte es nur für mich etwas erträglicher, wenn andere dabei waren. Als mein Lebensgefährte Weihnachten im Jahr 2000 das erste Mal mit mir bei meinen Eltern Weihnachten feierte, hat ihn das Schauspiel, was sich ihm im Laufe des Abends darbot, langanhaltend beeindruckt. 

 

Wie lief Weihnachten also bei uns zu Hause ab? Als ich ein gewisses Alter erreicht hatte, an dem der Glaube an den Weihnachtsmann oder das Christkind verflogen war und meine Mutter meine Arbeitskraft zum Weihnachtsbaum schmücken einteilte, gab es in jedem Jahr die gleiche Prozedur:

 

Meine Eltern fuhren am späten Vormittag des Heiligen Abends zu einer Geburtstagsfeier von engen Freunden. Meist hatte mein Vater – nicht ohne heftige Diskussionen über den richtigen Standort - schon den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer aufgestellt und überflüssige Äste abgesägt oder Löcher für fehlende Äste in den Stamm gebohrt. Wenn der Baum derart bearbeitet, dem kritischen Blick meiner Mutter Stand halten konnten, war es die Aufgabe meines Bruders, die Lichterkette anzubringen - jedenfalls so lange, bis er auszog. Ab jenem Jahr erweiterte sich mein Aufgabenspektrum. Meist führte das Anbringen der Lichterkette zu den nächsten Auseinandersetzungen: Die Lichter waren entweder ungleichmäßig verteilt oder mussten näher an den Stamm gerückt oder mehr nach außen gedreht werden. Schließlich stand der Baum durch das Hantieren mit der Lichterkette wieder schief und irgendwo fehlte doch noch ein Ast für die perfekte Symmetrie. Und überhaupt war der Baum in diesem Jahr eine absolute Katastrophe. Bis hierhin ist es vielleicht in vielen Familien so oder so ähnlich.

 

Mit dem Hinweis, dass ich mir auch ja Mühe beim Schmücken geben solle, verschwanden meine Mutter und mein Vater zu der Geburtstagsfeier. Die nächsten drei bis vier Stunden gehörten mir und dem Weihnachtsbaum: Herrlich! In Ruhe schmücken, Weihnachtsmusik hören oder ein Märchen im Fernsehen nebenbei ansehen, Tee trinken und Plätzchen knabbern. Jede Kugel bekam einen sorgfältig ausgewählten Platz. Jede Schleife wurde liebevoll drapiert. Bloß nirgends ein „Loch“ lassen. Und egal, wie sehr ich mich auch anstrengte, es gab immer etwas, das meiner Mutter missfiel. 

 

Meist gegen 15 Uhr kamen meine Eltern von der Geburtstagsfeier zurück. Je nach Lage und Vorkommnissen auf der Feier stritten sie sich schon auf dem Weg vom Parkplatz bis zur Haustür, beide (leicht) angetrunken. Meist waren sie nicht lustig beschwipst, so dass es auch für mich eventuell hätte amüsant sein können. Nein, sie waren schlicht angetrunken und aggressiv. Als Kind und Jugendliche mochte ich es gar nicht, wenn meine Eltern - und überhaupt Erwachsene - betrunken waren. Ich hatte Angst vor ihnen. Sie erschienen mir dann unberechenbar und nicht mehr Herr oder Frau ihrer Sinne zu sein. Oder sie erschienen mir, als hätte sie eine Metamorphose durchlaufen. Gleich der Raupe, die zum Schmetterling wird, wurden aus ruhigen, freundlichen Menschen laut grölende und anzügliche Betrunkene...

 

Mein Vater schlief meist ab einem gewissen Alkoholpegel einfach ein. Bis dahin war er lustig - wenn meine Mutter nicht in der Nähe war. Sie beherrschte es vortrefflich, meinen Vater zu provozieren und mein Vater konnte sein Temperament und seine Tendenz zum Jähzorn dann nicht zügeln. Waren also die beiden in einem Raum, verhielten sie sich wie zwei ausgehungerte Eisbären, die um ein Stückchen Fleisch balgten. Sie fauchten sich an, warfen sich unfassbar verletzende Dinge um die Ohren und nahmen weder ein Blatt vor den Mund, noch Rücksicht darauf, wer sich gerade mit im Raum befand - ob wir Kinder oder unsere Gäste. Rückblickend beschämt es mich immer noch, wie abfällig sich meine Eltern gegenseitig behandelten und mit welchen Worten sie sich bedachten. Mein Lebensgefährte sagte mal, sie seinen immerhin "sehr authentisch". Ich habe mich oft gefragt, ob sie sich besser nie begegnet wären. Und gleichzeitig war es als Kind meine größte Angst, dass sie sich diesmal doch trennen würden.

 

Nach dem ersten großen Krach an Weihnachten kehrte meist etwas Ruhe ein. Mein Vater verzog sich in den Keller, meine Mutter ins Bett oder direkt in die Küche - und ich saß betrübt und traurig in meinem Zimmer. Schon wieder nichts mit friedvollen Weihnachten. Schade, hätte ja dieses Jahr klappen können. Ich glaube, das habe ich auch noch mit Ende 20 gehofft…

 

Dann kam das Abendessen. Meine Mutter war eine ziemlich gute Köchin und sie zauberte jedes Jahr eine andere Köstlichkeit. Ein traditionelles Weihnachtsessen gab es bei uns nicht. Zum Glück: So konnte wenigstens eine vielleicht missglückte Gans nicht zusätzlichen Streit entfachen. Aber die Gans brauchte es auch gar nicht - und mein Vater hatte auch nie am Essen gemäkelt. Bis zur Mitte des Hauptgangs unterhielten wir uns meist friedlich. Manchmal sogar bis zur Bescherung. Der erste Alkohol bei meinen Eltern von der vormittäglichen Geburtstagsfeier war abgebaut. Allerdings wurde dem sinkenden Pegel während des Essens tüchtig entgegen gewirkt… Und es dauerte nicht lange bis wieder ein Wort das andere ergab und meine Eltern sich erneut auf das Übelste in den Haaren lagen. Wenn ich so zurückblicke, brauchte es dafür eigentlich auch keinen Alkohol… Streit unter der Gürtellinie ging auch nüchtern.

 

Es gab Jahre, da habe ich meine Eltern bei solchen Streitereien angeschrien, ob sie alles verderben müssten. Später versuchte ich mich als Schlichterin. Erfolglos. Je nachdem, wie heftig es lief, rannte mein Vater schon während des Essens Türen knallend in den Keller und wir mussten ihn mühselig überzeugen, zur Bescherung zu kommen. In guten Jahren fand der terminale Krach erst nach der Bescherung statt - oder aber mein Vater schlief trunken unter dem Weihnachtsbaum ein, was meine Mutter ebenfalls aufregte. Wie auch immer: Weihnachten endete nie friedvoll und ruhig mit meinen Eltern. Selbst wenn sich mein Vater im Keller verkrochen hatte, musste ich mir anschließend die Schimpftiraden meiner Mutter anhören. Dabei floss weiter der Alkohol. 

 

In einem Jahr war Weihnachten besonders schlimm. Ich muss um die 20 gewesen sein. Meine Mutter hatte zwischenzeitlich ein Alkoholproblem und war von der vormittäglichen Geburtstagsfeier in stark angetrunkenem Zustand spurlos verschwunden. Ausgerechnet in diesem Jahr hatte es geschneit und es war kalt. Meine Mutter war nicht entsprechend gekleidet, um sich lange in der Kälte aufhalten zu können. Mein Vater kam von der Geburtstagsfeier zurück, in der Annahme, dass meine Mutter bereits zu Fuß nach Hause gegangen sei. Als ich ihn fragte, wo sie sei, wurde er blass und war von einen auf den anderen Moment stocknüchtern. Wir suchten sie den ganzen Nachmittag, telefonierten alle Bekannten ab und mein Vater fuhr durch das ganze Dorf. Kein Hinweis, keine Spur. Mobiltelefone hatte damals kaum jemand. Wir wollten gerade die Polizei informieren, als sie gegen 18 Uhr auf einmal in der Tür stand, betrunken und sich keiner Schuld bewusst. Sie war bei einer Nachbarin, die wir nicht auf dem Schirm hatten, weil sie zu dieser in nüchternem Zustand nie gegangen wäre. Es war das stillste Weihnachtsfest, dass ich in dieser Familie erlebt habe. Der Schock saß zunächst tief. Natürlich brach später noch ein ganz fürchterlicher Streit aus. 

 

Es war, glaube ich, dieses Jahr, an dem meine Romantikerin kapitulierte und sich der weihnachtlichen Realität in meiner Familie beugte. 

 

Erst, nachdem ich einige Jahre von zu Hause ausgezogen war, änderte sich das. Es gab tatsächlich diese kleinen magischen Momente an Weihnachten. Nebenbei bemerkt: nicht nur an Weihnachten. Ich habe eine Weil gebraucht bevor ich erkannte, was diese Momente ausmacht. Sie hatten oder haben immer damit zu tun, dass sich friedvolle, aufrichtige Menschen liebevoll und in gegenseitiger Wertschätzung begegnen und dies durch kleine Gesten ausdrücken können. Dass sich Menschen mehr für einander interessieren als für die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum oder den Festschmaus. Das macht die Magie an Weihnachten aus! Und zur Not reicht auch ein Käsebrot... Gerade in dem Jahr, in dem meine Mutter über Weihnachten mit einem alkoholverursachten Leberkoma im Krankenhaus lag und wir nicht wussten, ob sie das neue Jahr erleben wird, spürte ich die Magie von Weihnachten sehr deutlich: Trotz des Kummers und der Sorgen - und auch der Wut - war es eines der ruhigsten und besinnlichsten Weihnachtsfeste, das ich erleben durfte: Bei lieben, zugewandten Freunden. Mit Käsefondue. 

 

Als ich gestern Nachmittag den Weihnachtsbaum schmückte, spürte ich kurz, wie sich die Erinnerung aus meiner Kindheit und Jugend wieder meldete. Wie jedes Jahr. Und wie jedes Jahr wünsche ich mir zu Weihnachten, dass die Romantikerin in mir recht behält: Weihnachten, eine friedliche, ruhige Zeit, in denen es um die geht, die uns etwas bedeuten und denen wir etwas bedeuten. Ich arbeite daran...