Ein Tag mit Schmerz und Angst

Für Menschen, die nicht mit chronischen Schmerzen und/oder Panikattacken zu tun haben, ist es sehr schwer nachzuvollziehen, wie sich Betroffene fühlen. Und das ist auch nicht so leicht verständlich zu machen. Vielleicht kann das beispielhafte Protokoll meiner Gedanken, die mir an schlechten Tagen durch den Kopf gehen, helfen...

6:20 Uhr

Der Wecker klingelt.

Räkeln klappt ganz gut.

Rücken tut nicht weh. Kopf auch nicht. Schön.

Noch was dösen…

 

6:29 Uhr

Ist so schön hier im Bett.
Nichts tut weh.
Muskeln entspannt.
Alles in Ordnung.
Will hier nicht raus…

 

6:38 Uhr

Okay. Muss wohl doch aufstehen.

Langsam bewegen. 

Beine anziehen.

Auf die Seite rollen.

Bauch anspannen….

Und auf die Bettkante setzen…

 

6:39 Uhr

Geht doch.

Körperspannung aufbauen. 

Aufstehen… 

Aua… 

Der Fuß… 

und der Rücken… 

Wird bestimmt gleich besser…

Bin noch nicht warmgelaufen…

 

6:41 Uhr

Verflixt! Die Autobahn lärmt heute wieder… 

Hört sich so an, als säße ich auf dem Mittelstreifen…

Kein Grund zur Aufregung!
Atme ruhig durch. 

 

6:58 Uhr

Gemütlich hier vor dem Morgenmagazin mit warmen Tee und der Wärmflasche im Rücken.

 

7:10 Uhr

Noch einen Tee holen - und eine Banane…

Aua! Mist! Der Rücken…

Atme weiter…

Pobacken locker lassen.

Hüpf ein wenig… 

Geht doch… So halbwegs…

 

7:30 Uhr

So langsam muss ich wohl ins Bad. 

Aus dem Fenster starren ist aber schöner…

 

7:45 Uhr

Okay, jetzt wird es aber Zeit!

Warum trödele ich immer so?

Jetzt muss ich mich wieder beeilen. 

Das findet dann der Rücken wieder doof… 

Autsch! Mist! 

Sag ich doch. Eile mag der Rücken nicht…

Und was soll ich anziehen? 

Egal. Bin eh zu dick geworden… 

Elende Sucht nach Süßem…

Und der doofe Fuß und Rücken schränken mich ein.

Toll. Schon der erste Schweißausbruch an diesem Tag…

Muskeln in den Beinen sind total verspannt. 

Lass locker! Atme!

Wird gleich unter der warmen Dusche besser.

 

7:58 Uhr

Gleich wird es laut, wenn ich das Badezimmerfenster kippe. 

Die Autobahn...

Bereite dich drauf vor…

Ich kann diesen Krach nicht mehr aushalten… 

Mach das Fenster besser wieder zu.

 

8:00 Uhr

Noch etwas Rosmarinöl für die verkrampften Muskeln. 

Alles tut weh. Atme ruhig durch und zähle beim Ausatmen bis 8.

1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8… pffffff

 

8:10 Uhr

Aua! Schon wieder eine doofe Bewegung. 

Und dann dieser stechende Schmerz.

Lieber noch Schmerzmittel nehmen, bevor ich ins Büro fahre.

 

8:30 Uhr

Verflixt. Warum höre ich nicht auf zu schwitzen? 

Ist doch gar nicht so warm heute. 

Und dieses Pfeifen im Ohr. Jetzt höre ich rechts gerade gar nichts mehr. 

Atme ruhig durch. Es ist alles gut. Du stehst auf beiden Beinen. Es ist alles gut. 

Nur doofe, verspannte Muskeln. 

Konzentriere dich darauf, dass die Muskeln locker werden. 

Locker! Locker! Werdet endlich locker…

 

8:40 Uhr

Welche Schuhe machen denn dem Rücken und dem Fuß heute am wenigsten Ärger? 

Komme wieder zu spät ins Büro. 

Hab wieder nichts zu essen für die Mittagspause dabei…

Muss wieder Geld ausgeben…

 

8:55 Uhr 

Gehe langsam. 

Ganz ruhig Schritt für Schritt.

Lass die Muskeln locker.

Atme…

 

8:58 Uhr

Uff. Riecht das hier wieder unangenehm in der U-Bahn!

Okay. Atme weiter ruhig ein und aus. 

Schnuppern an deinem Schal. 

Denk an was Schönes… 

Könnte ich bitte endlich mal aufhören zu schwitzen und zu zittern!

 

9:06 Uhr

Ist die U2 heute wieder voll.

Warte ich auf die nächste Bahn.

Die 4 Minuten sind nun auch egal.

Hab leider meine Kopfhörer vergessen…

 

9:10 Uhr

Okay, die Bahn muss ich jetzt doch nehmen…

In dem Wagen ist noch halbwegs Platz…

Stehplatz… Ah, da kann ich mich festhalten.

 

9:11 Uhr

Seit wie vielen Wochen hat der Typ neben mir seine Jeans nicht gewechselt?

Mir wird übel.

Denk an was Schönes und atme einfach weiter.

 

9:13 Uhr

Warum muss der sich noch hier rein quetschen?

Sieht der nicht, dass hier kein Platz mehr im Wagen ist?

Ich kann nirgendwo mehr hin. 

Mir wird heiß. 

Oh, Gott. Hoffentlich sieht keiner wie ich schwitze…

Ich bekomme kaum noch Luft.

Es ist so warm.

Es riecht ekelhaft nach nassem Hund und schwerem Parfüm.

Lenk dich ab! Atme! Lass alle Muskeln locker!

 

9:15 Uhr

Ich will hier raus!

Okay, denk an den sicheren Ort… 

Mist! Geht nicht. Warum müssen die Leute so laut telefonieren?

Kauf dir bessere Kopfhörer oder mach die Musik leiser.

Haltet doch bitte alle mal den Mund!

Deine Lieblingsfarbe!

Hüll dich in deine Lieblingsfarbe und keiner kann dir was anhaben.

Das Wasser strömt mir aus allen Poren… 

Der Rücken tut höllisch weh…

Ich bekomme keine Luft.

Mein Herz rast…

 

9:17 Uhr

Bloß raus hier!

Die ein Station laufe ich lieber.

Langsam und vorsichtig die Treppe runter…

Aua! Verflixt, schon wieder vertreten und Schmerzen im Rücken.

Und jetzt auch noch der wellenartige Schmerz im Fuß.

Ich kann nicht auftreten…

Bleib kurz stehen.

Einmal durchatmen und Muskeln locker lassen… 

Nicht verkrampfen…

 

9:20 Uhr

Die frische Luft tut gut.

Die Sonne scheint.

Ist mir aber auch egal. 

Geh langsam und ruhig weiter.

Nur keine Hektik.

Gönn dir noch einen Kaffee.

 

9:30 Uhr

Dann mach mal den PC im Büro an.

Eine Wärmflasche für den Rücken wäre auch gut.

 

9:45 Uhr

Okay. 

Der Tag scheint heute überschaubar.

Bleib ruhig. Atme durch. Alle ist gut. 

Warum verkrampfe ich so?

 

10:30 Uhr 

Ach, so ein Telefonat mit M. tut immer wieder gut.

Geht mir gleich besser.

Mache mir mal einen Kaffee.

 

11:07 Uhr

Warum ist mein Kollege heute nur wieder so hektisch?!?

Die Welt wird nicht untergehen, wenn es einen Tag länger dauert, den Vermerk zu schreiben. 

Nein, wir operieren hier nicht am offenen Herzen!

 

11:13 Uhr

Das war jetzt echt zu viel.

Ich bekomme keine Luft.

Ameisenkribbeln von Kopf bis Fuß.

Schweißausbruch…

Warum lädt jetzt auch noch die Kollegin ihren Frust bei mi ab.

 

11:41 Uhr

Mist.

Fette Panikattacke.

Bleib ruhig.

Du kennst das!

Atme ein und wieder aus… ganz langsam… pfffffff.

 

11:45 Uhr

Ich kann mich nicht mehr bewegen.

Doch, kannst du.

Nein.

Steh langsam auf. Bauch anspannen und… 

Puh! Geklappt!

Jetzt ganz ruhig mal eine Rund um den Block gehen…

 

12:33 Uhr

Zum Glück etwas besser.

Was muss ich heute eigentlich noch erledigen? 

Ah, die Rede schreiben…

 

12:50 Uhr

Mir muss doch was einfallen.

Warum hört diese Anspannung und der Schmerz nicht auf?

Konzentriere dich. Konzentriere dich.

 

13:03 Uhr

Ich werde mal B. anmailen.

 

13:40 Uhr

Tut immer wieder gut, sich mit B. auszutauschen. 

Okay, ran an die Rede...

 

15:30 Uhr

Oh! Schon 15:30 Uhr? 

Zeit für einen Tee.

Du hast heute viel zu wenig getrunken.

Aua! Mist! 

Warum stehst du auch so schnell auf. 

Blöder Rücken.

Kannst du nicht endlich mal aufhören, dauernd weh zu tun!

Alles ist verkrampft. Atme tief in den Bauch…. Pfffff.

Versuch mal Autogenes Training…

 

16:47 Uhr

Ich sollte besser nach Hause gehen.

Nein! Nicht bewegen! Dann schmerzt alles!

Ich kann nicht mehr.

Immer nur Anspannung.

Die Rede muss fertig werden.

Wofür mache ich das überhaupt hier? 

Ist doch eh egal…

 

17:30 Uhr

Wieder in die volle U-Bahn. 

Was für ein Gestank…

Und dieser Krach… 

Atme einfach weiter… 

Denke an was Schönes…

Orange umhüllt mich, Orange umhüllt mich…

Alle Muskeln sind entspannt…

 

17:37 Uhr

Warum benehmen sich die Menschen so rücksichtslos in öffentlichen Verkehrsmitteln?

 

17:45 Uhr

Hoffentlich erwartet mich zu Hause nicht gleich schlechte Laune. 

Bleib locker. Alle Muskeln sind locker und entspannt. 

 

18:00 Uhr

Autsch. Sind sie nicht…

 

18:04 Uhr

Super. 

Zu Hause ist auch große Anspannung…

 

18:11 Uhr

Gibt es eigentlich noch irgendwo einen Ort, an dem ich ruhig und entspannt sein kann?

Einen Ort, an dem ich so angenommen werde, wie ich bin?

Wo ich einen Platz habe?

Derzeit überall um mich herum nur Spannung und leichte Aggressivität.

 

18:30 Uhr

Rückenübungen… 

Schön langsam und vorsichtig. 

Entspann dich… 

Atme…

Alles ist locker. 

 

19:20 Uhr

Hmmm… beim Abendessen nur die nötigsten Worte gewechselt. 

Ich bin’s schuld.

Wer will schon mit so einem seelischen Krüppel wie mir zusammenleben?

Ich mache alles kaputt.

Ich kann und will nicht mehr. 

Diese Schmerzen und diese Anspannung. 

Ich wünsche mir nur Ruhe und Frieden… und ein kleines Haus im Grünen mit einem Hund…

 

21.45 Uhr

Endlich im Bett.

Die Wärmflaschen tun gut.

Endlich Ruhe.

Ist schön kuschelig und geborgen hier. 

So sollte es für immer sein…

 

 

Und die Angst? Sie sitzt nur daneben und wundert sich...