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Der Tag, an dem die Angst einzog

 „Sie müssen sofort zu Ihrem Orthopäden“, schallte es durch den grauen Vorhang der winzigen, mit braunem Nadelfilz ausgelegten Umkleidekabine. Gleich darauf wurde er mit einem heftigen Ruck zur Seite gerissen und gab den Blick auf einen weißbekittelten, hektischen Mann frei: „Sie haben einen kompletten Bandscheibenvorfall zwischen dem 4. und 5. Lendenwirbel…“ – mehr hörte ich schon nicht mehr.

 

Mit meinem rechten Bein gerade zur Hälfte in der Hose, vor Rückenschmerzen das linke nicht wirklich hochbekommend, taumelte ich auf den Stuhl in der Ecke der Kabine zu. Gerade erst war es mir gelungen, aus diesem großen, lauten und viel zu engen MRT-Gerät in Richtung Umkleide zu humpeln, da stand der Radiologe bereits ohne Ankündigung vor mir, um mir die Hiobsbotschaft zu überbringen.

 

Irgendetwas von „Nervenschäden, die vermieden werden müssen“, „möglichen Lähmungen, die auftreten könnten, wenn ich mich falsch bewege“ und einer „Operation“ drang an mein Ohr und wirbelte in meinem Kopf umher. Nachdem die Wortfetzen dort eine ziemlich wilde Berg- und Talfahrt durch alle Windungen und Furchen des Gehirns hinter sich hatten und wie beim Pingpong von einer Schädelseite zur anderen geflogen waren, formten sie schließlich einen unausweichlichen Gedanken: Ich werde in Kürze gelähmt sein (oder bin ich es vielleicht schon?). Und zwar für den Rest meines Lebens! Das war’s!

 

So überstürzt und rasant, wie der Radiologe aufgetaucht war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Als hätte er magische Kräfte oder einen Port-Schlüssel* oder beides… Ich saß mit offenem Mund auf dem Stuhl in der Kabine und fühlte – nichts mehr. Absolut nichts mehr. Dann ging es los: Der Boden tat sich unter mir auf, alles begann sich zu drehen, die Muskeln verspannten, Schweiß rann mir den Rücken runter, der Atem stockte, das Herz raste und ein Zittern ergriff meinen Körper. Bitte lass mich nicht in Ohnmacht fallen, dachte ich noch. Dann war in meinem Kopf plötzlich eine große, trockene Leere. Wie in einem alten Westernfilm schienen bloß noch ein paar lose, verdorrte Grasbüschel durch ihn hindurch zu wehen.

 

Der Umzug

Seitdem ich vor gut zwei Monaten die letzte Umzugskiste vom Aufzug in unsere neue Wohnung tragen wollte, plagten mich wahnsinnige Rückenschmerzen. Sie strahlten in alle möglichen Richtungen aus, ergänzt um ein Taubheitsgefühl im rechten Bein. Ich konnte kaum sitzen und gehen. Im Rückblick würde ich sagen, ich fühlte damals förmlich, wie sich beim Anheben des Kartons die Bandscheibe zwischen dem 4. und 5. Lendenwirbel Stück für Stück aus ihrer angestammten Position löste und sich im Zeitlupentempo in Richtung Nervenenden bewegte. Und je mehr die Bandscheibe vorfiel, umso stärker wurden Schmerz und Bewegungsunfähigkeit. "Ein Hexenschuss. Das wird wieder", prognostizierte erst der Arzt in der Notaufnahme und Tage später der Orthopäde.

Als es aber nach Wochen nicht besser wurde, sollte nun ein MRT Aufklärung bringen, was in meinem Rücken los war.

 

Bis zu dem Moment, in dem ich aus dem MRT zurück in die Umkleide gekrochen war, konnte ich ganz gut mit den Schmerzen und der eingeschränkten Beweglichkeit leben. Sie waren sehr lästig und wirklich sehr unangenehm, aber ich machte mir keine größeren Sorgen deswegen. Wird schon wieder.  

 

Das hatte sich nach dem dramatischen Auftritt des Radiologen schlagartig geändert.

 

Angststörungen entstehen manchmal durch vergleichsweise kleine Auslöser, wenn diese bei dem Betreffenden auf einen ohnehin erhöhten Stresspegel durch viel Arbeit, einige Veränderungen der Lebensumstände und auch Sorgen um Job und Familie treffen. Wie der berühmte kleine Funke, der einen Flächenbrand auslösen kann. Und bei mir war dieser Funke das Verhalten des Radiologen, dass mich ängstigte und dass er mich mit dieser Angst alleine lies. 

 

Die Angst

„Wow! Das war ja mal ne Nummer!“, drang von der anderen Seite des Kabinenvorhangs erneut eine Stimme an mein Ohr. Diese Stimme kam mir aber irgendwie bekannt vor. Ich drehte den Kopf in Richtung des breiten Spalts, der sich zwischen Vorhang und Kabinenwand auftat: Gerade zu auf der Behandlungsbank saß eine diffuse Gestalt, die lässig die Beine baumeln lies.

„Hallo! Ich bin’s. Die Angst“, sagte die Angst. Und ehe ich antworten konnte fuhr sie fort: „Der Arzt hat es echt drauf! Radiologen sollten wirklich nicht mit Patienten reden, sondern nur diese komischen Röntgenbilder auswerten“, schüttelte sie fassungslos den Kopf. Ich blickte sie offenbar mit sehr leeren Augen an.

 

„Ah! Eisiger Wind in leeren Hallen, was?“ kommentierte die Angst meinen entgeisterten Blick „Vielleicht solltest du dich jetzt aber mal endlich anziehen“, schlug sie ungeduldig vor. „Oder wollen wir ewig hier sitzen bleiben?“ Die Angst hopste von der Bank, schob den Vorhang ganz zur Seite und wollte mir helfen, das noch unbekleidete Bein in die Hose zu manövrieren. „Lass das“,

zischte ich sie an und begann behutsam, Bein zwei in die Hose zu fädeln. „Was… was machst du eigentlich hier?“ wollte ich stotternd und mit dem Hosenbein kämpfend wissen. „Wieso fragst du mich? Du hattest gerade eine 1A-Panikattacke!“, entgegnete die Angst. Keine hilfreiche Antwort...

 

Das war alles sicher nur ein böser Albtraum. Ich zog mich rasch an, so gut es mit meiner eingeschränkten Beweglichkeit und dem schmerzenden Rücken eben ging, und wollte nur noch aus dieser Praxis raus. Und zwar schnell! 'Schnell' war in diesem Fall ein sehr relativer Begriff. Selbst eine Schnecke mit überfülltem Haus auf dem Rücken hätte mich auf dem Weg zum Ausgang überholen können...

 

Himmel und Hölle

Als ich endlich auf dem Bürgersteig vor der Praxis stand, konnte ich den herrlichen Sommernachmittag, den der Juli zu bieten hatte, überhaupt nicht genießen. Ich stütze mich an einer hüfthohen Vorgartenmauer ab, die im Schatten eines Baumes lag und kramte in meiner Tasche nach dem Handy. „Und was machen wir jetzt?“, hörte ich die Angst, die angefangen hatte, mit Hilfe der Gehwegplatten „Himmel und Hölle“ zu spielen. Es klang so, als wolle sie als nächstes ein großes Eis mit Schlagsahne.

 

„Ich rufe jetzt bei meinem Orthopäden an. Wenn ich nicht gleich schon gelähmt sein werde…“, weihte ich die Angst mit stockender Stimme in meinen Plan ein. „So ein Quatsch!“, rief die Angst, die gerade in den Himmel gehüpft war „Du hast diesen Bandscheibenvorfall seit gut acht Wochen. Wenn, dann wärst du schon längst gelähmt!“

„Das ist ja sehr beruhigend! Danke!“, gab ich verunsichert zurück. „Und überhaupt: Seit wann bist du Arzt?“

 

Ich wählte die Nummer meines Orthopäden. Die Angst drängte sich ganz dicht an das Handy, um mithören zu können. „Kein Problem, kommen sie morgen einfach während der Sprechzeiten in die Praxis“, sagte die Arzthelferin freundlich, aber wenig mitfühlend, nachdem ich ihr meine Not geschildert hatte. „Aber der Radiologe hat doch gesagt, es eilt und ich werde bald gelähmt sein. Eigentlich bin ich schon halb gelähmt…“, erklärte ich panisch. „Wir schließen in 10 Minuten die Praxis. Da wird bis morgen schon nichts passieren. Und sollten wirklich Lähmungen auftreten oder Harn oder Stuhl unkontrolliert abgehen, fahren Sie einfach ins Krankenhaus. Also dann bis morgen“, und mit dieser Empfehlung legte die Sprechstundenhilfe einfach auf. Ich fühlte, wie die Panik wieder zunahm.

 

„Na, hat die eine Ahnung!“, rief die Angst empört und trat wütend einen Stein weg, der vor ihrem Fuß lag.

„Aber du hast doch gerade noch selber gesagt, dass da eigentlich nichts passieren kann“, meine Stimme klang jetzt recht hysterisch.

„Ja, aber du hast auch gesagt, dass ich kein Arzt bin! Also. Können wir jetzt endlich nach Hause gehen?“, quengelte die Angst.

 

Wie ich genau nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich schätze, die Angst hat ein Taxi für uns gerufen. Mich hatte nämlich zwischenzeitlich die nächste Panikattacke fest im Griff: Meine Beine waren taub, der Boden unter meinen Füßen schwankte wie ein Schiff, das zu kentern droht. Das Herz schlug wild. War es der hohe Blutdruck, der diesen Krach in meinen Ohren verursachte? Die Schmerzen waren höllisch, ich hörte beinahe auf zu atmen und verkrampfte. Ich fühlte mich wie in einer völlig irrealen Welt. Ein Stahlkorsett bildete sich um meine Lendenwirbelsäule (und sollte dort für die nächsten zwei Jahre bleiben) und zog sich immer enger zusammen. Jetzt bloß keine falsche Bewegung machen, dacht ich. Oder du wirst für immer gelähmt sein! Langsam schob ich einen Fuß vor den anderen, stolperte über jede kleine Unebenheit - und weinte vor lauter Verzweiflung. In meinem Kopf malte ich mir aus, wie ich künftig reglos im Rollstuhl sitzen müsste, angewiesen auf fremde Hilfe, gekündigt vom Arbeitgeber und verlassen von meinem Freund. Und der Schmerz würde sicher schlimmer und niemals aufhören. 

 

Die Macht der Angst

Ihr findet, dass ich übertreibe? Aus der Sicht eines Menschen, der nicht an einer Angst- oder Panikstörung leidet, absolut! Aber für einen Menschen wie mich, der mit diesem Problem zu kämpfen hat, war es in diesem Moment die Wahrheit. Und zwar die absolute, reine, unausweichliche Wahrheit. Ohne Wenn und Aber. Hat die Angst oder Panik erst einmal gnadenlos zugeschlagen und jede Faser des Körpers – und des Geistes – ergriffen, sind Angstpatienten kaum zugänglich für Fakten. Es dauert eine Weile, bis eine Art Realitätscheck (was übrigens ein gutes therapeutisches Mittel ist) wirklich hilft.

 

Meine Befürchtungen traten natürlich allesamt nicht ein: Freund blieb, Job blieb und ich stehe nach wie vor auf meinen eigenen Beinen. Aber an diesem Tag im Jahr 2002 war die Angst mit großem Trara bei mir eingezogen und erwies sich in den nächsten Jahren nicht gerade als pflegeleichter, dafür unsteter Mitbewohner. Sie stiftet nämlich gerne Chaos: lässt überall dreckige Wäsche liegen, macht nie den Abwasch und trägt auch den Müll nicht runter.

 

Etwa zwei Jahre begleitete mich die Angst. Sie freundete sich sehr eng mit meinem Rückenschmerz an. Überhaupt schien sie jede Form von körperlichem Symptom in Verbindung mit Schmerz zu mögen. Im Sommer 2004 verschwand die Angst und mit ihr der Rückenschmerz. Weihnachten 2005 war sie in Form von Unterbauchschmerzen und einer befürchteten Blinddarmentzündung schon wieder zurück. Sie hielt es diesmal anderthalb Jahre bei mir aus - solange dauerte es, bis endlich eine Ursache für die Bauchschmerzen gefunden war (nämlich keine, außer Stress und einer harmlosen Lactoseintoleranz) -, um dann wieder loszuziehen – wohin auch immer. 

 

Silvester 2009 kündigte die Angst per Telegramm an, dass sie bald wieder zurückkommen wolle. Und zwar mit ihrer großen Liebe, dem Rückenschmerz, den sie vorschickte. Ich glaubte ihr nicht und ignorierte die ewigen Hexenschüsse in den folgenden Monaten mehr oder weniger. Bis sie mir dann an einem Sonntag im August unvermittelt im Park begegnete: Ich konnte vor Rückenschmerzen und verspannten Muskeln nicht mehr laufen. Rückenschmerz und Angst blieben etwa ein Jahr.

 

2015 beschloss die Angst, nun sesshaft zu werden und stand wieder vor der Tür. Und wer kam wieder mit? Richtig! Der Rückenschmerz. Als ich sie darauf ansprach, ob sie sich nicht endlich eine eigene Wohnung suchen wolle, damit dieses Hin und Her aufhöre, erklärte sie mit erhobenem Zeigefinger: „Ich werde so lange und so oft wiederkommen, wie es nötig ist.“

„Aber, ähm, ich finde nicht, dass du so oft so nötig bist. Außerdem ist die Wohnung viel zu klein“, erwiderte ich verzweifelt. „Siehst du“, triumphierte die Angst und rollte sogleich die Augen „Du hast es immer noch nicht verstanden! Aber mach dir keine Umstände, Liebes! Wir nehmen einfach das Sofa", mit diesen Worten zwängte sich die Angst an mir vorbei, marschierte schnurstracks mit dem Rückenschmerz im Schlepptau ins Wohnzimmer und lies sich auf das Sofa fallen.  

 

Angst als Bewältigungsstrategie

Ich hasste es, wenn die Angst von sich derart überzeugt war. Doch letztlich hatte sie recht. Eine Angststörung weist oftmals auf die Dinge oder Verhaltensweisen in unserem Leben hin, unter denen wir mehr oder weniger stark leiden. Wie auch körperliche  Schmerzen, übernimmt Angst eine Art Schutz- und Warnfunktion – und zwar nicht nur vor äußeren Bedrohungen, sondern auch vor inneren Konflikten. Und wenn ich die letzten Absätze lese, kann ich zu jedem Jahr, in dem die Angst besonders stark und häufig auftrat, neben einem großen Maß an beruflichem Stress, mindestens zwei weitere belastende Ereignisse in meinem Leben aufzählen, die wohl der Angst wie eine Einladung - serviert auf dem Silbertablett – vorgekommen sein mussten.

Die Angst würde jetzt berichtigend sagen, dass sie nur auf meine Hilferufe reagiert habe, da andere Bewältigungsstrategien bei mir noch nicht wirklich erprobt seien (sie hat den Therapeuten und Ärzten in den letzten Jahren sehr genau zugehört…).

 

Jedenfalls hat es recht lange gedauert, bis ich diese Einsicht - und die vermeintlich gute Absicht der Angst - wirklich annehmen konnte und hingesehen habe, was bei mir alles nicht so rund lief. Da gab es doch einiges, was vor allem in meiner Vergangenheit lag. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich - mal abgesehen vom bereits erwähnten Stress im Job und kleineren privaten Belastungen - ein Bilderbuchleben ohne wirkliche Sorgen führte. "Bei mir ist doch alles normal", war mein liebster Spruch. Mir einzugestehen, dass dies in Teilen eine schützende Illusion war und ich jahrelang – wenn nicht sogar jahrzehntelang – mehr ein Leben nach den Werten und Vorstellungen anderer gelebt hatte, als nach meinen eigenen, war hart und ein schwerer Schritt. Gleichzeitig aber auch der erste Schritt in die richtige Richtung. Viele weitere Schritte folgten... 

 

Mittlerweile ist die Angst ein angenehmerer Mitbewohner geworden. Sie nervt immer noch, ist aber recht verträglich. Wie das gelungen ist und warum die Angst überhaupt so anhänglich wurde, erfahrt ihr hier auf diesen Seiten.

 

P.S.: Ich habe immer noch die Hoffnung, dass die Angst eines Tages endgültig auszieht.

 

 

 

*Ein Portschlüssel wird in den Harry Potter Bücher von Zauberern benutzt, um blitzschnell von einem Ort zu einem anderen zu reisen.

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